JACK VANCE Grüne Magie
Erzählungen
Deutsche Erstausgabe
Fantasy
WILHELM HEYNE VERLA G MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY– Band 06/4478 Titel der amerikanischen Originalausgabe GREEN MAGIC Deutsche Übersetzungen von Andreas Brandhorst und Heinz Nagel

Das Umschlagbild schuf Rodney Matthews Redaktion: Friedel Wahren Copyright © 1979 by Jack Vance (Copyright der einzelnen Geschichten jeweils am Schluß der Texte) Copyright © 1988 der deutschen Übersetzungen by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1988 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-01012-4
»Jack Vance’ Werk bildet schon heute einen Eckstein im Gebäude der Science-fiction.«
Barry Malzberg
»Dieser außergewöhnliche Sprachbildner ist ein unerhört rühriger und listiger Autor – und immer für eine Überraschung gut.«
Robert Silverberg
»Er weiß einfach alles über Kindheit, Leid, soziale Zusammenhänge, Träume und Verluste…«
Joanna Russ
Jack Vance, ein Schöpfer fremdartiger Welten und exotischer Kulturen, wie ihn die phantastische Literatur nicht noch einmal kennt präsentiert im vorliegenden Band neun seiner Meisternovellen:
Grüne Magie Die Wundermacher Die Mondmotte Mitr Die Menschen kehren zurück Das Schmale Land Die Pilger Das Geheimnis Liane der Wanderer
Grüne Magie
Howard Fair sah die Hinterlassenschaften seines Großonkels Gerald McIntyre durch und fand dabei einen großen Band mit dem Titel:
ARBEITSBERICHT UND TAGEBUCH
Lektüre auf eigene Gefahr!
Fair las das Tagebuch mit großem Interesse, obgleich seine eigene Arbeit weit über die Konzepte hinausging, die von Gerald McIntyre nur am Rande und mit großer Zurückhaltung behandelt worden waren.
›Die Existenz von Disziplinen, denen in Hinblick auf die elementare Magie koaxiale Qualitäten zukommen, muß nunmehr ohne jeden Zweifel anerkannt werden‹, schrieb McIntyre. ›Ausgehend von einigen Analogien in bezug auf die weiße und schwarze Magie (im folgenden in einem geeigneten Kontext erläutert), habe ich den grundlegenden Bedeutungsumfang sowohl der purpurnen Magie beschrieben als auch der notwendigen Folge daraus, des Dynamischen Nomismus.‹
Fair las weiter, und er betrachtete dabei die mit aller Sorgfalt erstellten Diagramme und Übersichten, die Listen und Grafiken, die Interpolationen und Extrapolationen, die Gerald McIntyre als Fundament für das komplexe Gebäude seiner Systemlehre verwendet hatte. Inzwischen war es bei den technischen Wissenschaften zu einem derartigen Fortschritt gekommen, daß die Darlegungen McIntyres, die noch vor sechzig Jahren äußerst umstritten gewesen waren, in jeder Beziehung korrekt und exakt erschienen.
›Gutartige Geschöpfe wie zum Beispiel Engel, weiße Kobolde, Feen und Elfen sind typisch für den weißen Zyklus, wohingegen Dämonen, Trolle, Teufel und Poltergeister den Gesetzen der schwarzen Magie gehorchen. Für den purpurnen und grünen Zyklus gibt es ähnlich charakteristische Wesen, doch sie sind weder gut noch böse und stehen zur schwarzen und weißen Sphäre in einer Beziehung, die man mit den Verbindungen vergleichen könnte, die oben genannte Geschöpfe zu unserer Seinsebene aufweisen.‹
Fair las den betreffenden Abschnitt noch einmal. »Grüner Zyklus?« Hatte es Gerald McIntyre etwa geschafft, in Regionen vorzustoßen, die von modernen Forschern bisher übersehen worden waren?
Aus der Perspektive dieses Argwohns befaßte er sich erneut mit dem Inhalt des Tagebuches, und dabei stieß er auf weitere Hinweise und Bezugspunkte. Mindestens ebenso provokativ war eine dahingekritzelte Randbemerkung: ›Meine letzten Entdeckungen möchte ich nicht schildern, denn für einen solchen Verzicht wurde mir unermeßlicher Lohn versprochen.‹ Das Datum jenes knappen Eintrages deutete darauf hin, daß Gerald McIntyre diese Worte einen Tag vor seinem Tod am
21. März, dem Frühlingsanfang des Jahres 1898, geschrieben hatte. Ganz gleich, worin der ›unermeßliche Lohn‹ auch bestanden haben mochte – ganz offensichtlich war McIntyre kaum dazu in der Lage gewesen, ihn richtig zu genießen… Fair konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Tagebuch und mußte daran denken, daß einige wenige Sätze interessante und überaus faszinierende Schlußfolgerungen ermöglichten. Und da McIntyres Unterlagen keine weiteren Erklärungen anboten, begann Fair unverzüglich mit eigenen Nachforschungen.
Zunächst war alles Routine. Er bereitete einige Beschwörungen vor, zog die Standardregister ebenso zu Rate wie die normalen Wörterverzeichnisse, Handbücher und Formelübersichten, und anschließend rief er einen Dämonen herbei, dessen Bekanntschaft er unlängst gemacht hatte und den er als recht gebildet erachtete. Doch der erhoffte Erfolg stellte sich nicht ein. Er fand keine direkten Hinweise auf Zyklen jenseits der purpurnen Sphäre. Und der Dämon war nicht einmal zu entsprechenden Spekulationen bereit.
Davon ließ sich Fair nicht entmutigen. Tatsächlich nahm sein Interesse sogar noch zu. Ein weiteres Mal las er das Tagebuch und richtete sein Augenmerk dabei insbesondere auf die Beschreibungen der purpurnen Magie, wobei er von folgender Überlegung ausging: Als McIntyre sich anschickte, jenseits des purpurnen Zyklus nach neuem Wissen Ausschau zu halten, mochte er durchaus die Methoden benutzt haben, die zum gewöhnlichen Handwerkszeug aller Forscher gehörten. Mit Hilfe von Färbemitteln und ultraviolettem Licht gelang es Fair, einige Bemerkungen lesbar zu machen, die McIntyre zunächst niedergeschrieben, dann jedoch ausradiert hatte.
Die Aufregung Fairs nahm zu. Die Notizen bewiesen, daß er auf dem richtigen Weg war. Außerdem deuteten sie in diesem Zusammenhang auf einige Sackgassen hin, die er meiden und dadurch Zeit und Mühe sparen konnte. Mit solcher Hingabe widmete sich Fair seiner Arbeit, daß er sich noch vor Ablauf einer Woche dazu imstande sah, einen Geist aus dem grünen Zyklus zu beschwören.
Er erschien ihm als ein Mann mit grünen Glasaugen und einem Büschel aus zarten Eukalyptusblättern anstelle des Haars. Er begrüßte Fair zwar freundlich, doch recht knapp, und er weigerte sich, Platz zu nehmen. Darüber hinaus ignorierte er die Einladung Fairs, eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken.
Eine Zeitlang wanderte er in der Wohnung umher und blätterte in den Büchern Fairs, wobei er sich zwar neugierig gab, seine Miene aber eine Art von gleichgültiger Erheiterung zum Ausdruck brachte. Und schließlich erklärte er sich dazu bereit, auf die Fragen Fairs zu antworten.
Der Forscher bat um Erlaubnis, seinen Kassettenrecorder benutzen zu dürfen, was der Geist ihm großzügigerweise gestattete, und daraufhin schaltete Fair das kleine Gerät ein. (Als er das Band später abspielte, drang nicht das geringste Geräusch aus dem Lautsprecher.)
»Welche magischen Sphären befinden sich hinter dem grünen Zyklus?« lautete seine erste Frage.
»Darauf kann ich Ihnen keine genaue Auskunft geben«, erwiderte der Geist, »denn ich weiß es nicht. Es gibt mindestens zwei weitere, die den Farben entsprechen, die wir graun und bleib nennen. Und mit ziemlicher Sicherheit dürften sich dahinter noch andere erstrecken.«
Fair richtete das Mikrofon so aus, daß es die Stimme des Geistes besser empfangen konnte.
»Wie sieht der grüne Zyklus aus?« fragte er. »Ich meine, wie ist sein physisches Erscheinungsbild?«
Der Geist dachte einige Sekunden lang nach. Perlmuttfarbene Glanzstreifen wanderten durch seine Züge und offenbarten die einzelnen Gedankengänge. »Was die Benutzung des Wortes ›physisch‹ anbelangt, unterliege ich gewissen Beschränkungen. Und beim ›Erscheinungsbild‹ geht es um subjektive Interpretationen, die sich von Sekunde zu Sekunde verändern.«
»Damit haben Sie natürlich recht«, bestätigte Fair rasch. »Versuchen Sie, die Sphäre mit Ihren eigenen Worten zu beschreiben!«
»Nun, bei uns gibt es vier verschiedene Regionen, und zwei davon ragen aus der allgemeinen Struktur des Universums, was bedeutet, daß sie sich unterhalb der beiden anderen befinden. Die erste ist einerseits zwar ziemlich komprimiert und deform, andererseits jedoch wegen der großen und gesprenkelten Tümpelverwerfungen bekannt, die wir des öfteren benutzen, um Verwirrung zu stiften. Wir haben sie ausgestattet mit Bärlapp aus dem irdischen Devon und einigen Eisfeuern aus der Verdammnis. Das Zeug wächst und leuchtet an den Ruten, die wir Teufelshaar nennen…« Auf diese Weise fuhr der Geist einige Minuten lang fort, und Fair mußte sich zu seinem Leidwesen eingestehen, daß sich die meisten Informationen seinem Verständnis entzogen. Außerdem gewann er nach und nach den Eindruck, daß sie sich immer mehr von dem Punkt entfernten, an dem er die Frage hätte stellen können, auf die es ihm eigentlich ankam. Mit aller Behutsamkeit schnitt er ein anderes Thema an.
»Ob wir nach Belieben Einfluß auf die physikalische Matrix der Erde nehmen können?« Der Geist lachte leise. »Ich nehme an, Ihre Frage bezieht sich auf die vielfältigen Aspekte von Raum, Zeit, Masse, Energie, Leben, Denken und Erinnerung, nicht wahr?«
»Genau.«
Der Geist hob die grünen Maisgrannen-Brauen. »Genausogut könnte ich mich bei Ihnen erkundigen, ob Sie dazu in der Lage sind, ein Ei zu zerbrechen, indem Sie mit einer Keule darauf einschlagen. Die Antwort zeichnete sich durch ein ähnliches Ausmaß an Ernsthaftigkeit aus.«
Fair hatte mit einer gewissen verärgerten Herablassung gerechnet und war deshalb nicht beschämt. »Wie könnte ich solche Techniken erlernen?«
»Auf die übliche Art und Weise: durch sorgfältiges Studium.«
»Oh, ich verstehe – und auf welche Weise wäre es mir möglich, mich mit einem derartigen Studium zu befassen? Wer könnte mich unterweisen?«
Der Geist winkte ab, und grüne Dampfwolken lösten sich von seinen Fingerspitzen und wallten dahin. »Nun, ich hätte durchaus die Möglichkeit, Ihnen die gewünschte Hilfe zu gewähren, aber da ich Ihnen keinen besonderen Groll entgegenbringe, möchte ich lieber davon absehen. Und nun entschuldigen Sie mich bitte – ich muß fort.«
»Wohin gehen Sie?« fragte Fair, sowohl verwundert als auch ein wenig besorgt. »Darf ich Sie begleiten?«
Der Geist streifte sich einen Umhang aus glänzendem grünen Staub über die Schultern und schüttelte den Kopf. »Sie würden sich alles andere als wohl fühlen.«
»Aber es haben doch schon andere Menschen vor mir die Welten der Magie erforscht!«
»Das stimmt. Zum Beispiel Ihr Onkel Gerald McIntyre.«
»Und hat mein Onkel Gerald die Geheimnisse der grünen Magie in Erfahrung gebracht?«
»Soweit das seine Fähigkeiten zuließen. Allerdings verschaffte ihm sein Wissen kein Vergnügen. Sie sollten sich ein Beispiel an seinen unliebsamen Erfahrungen nehmen und Ihren Ehrgeiz anderen Dingen zuwenden.« Der Geist drehte sich um und ging los.
Fair sah ihm nach. Der grüne Mann entfernte sich rasch und wurde sichtlich kleiner dabei, doch er erreichte nicht die Wand des Zimmers. Als er etwa fünfzig Meter zurückgelegt zu haben schien, warf er einen kurzen Blick zurück, so als wolle er sich vergewissern, daß Fair ihm nicht folgte. Dann trat er jäh zur Seite und verschwand.
Zunächst trug sich Fair mit dem Gedanken, den Rat des Geistes zu beherzigen und sein wissenschaftliches Interesse auf andere Dinge zu richten. Er war in den Künsten der weißen Magie bewandert, und er kannte sich auch in denen der schwarzen Entsprechung aus. Gelegentlich beschwor er einen Dämonen, um einer Party – die sonst sicher sehr langweilig geworden wäre – den richtigen Schwung zu geben. Und außerdem stand er erst am Anfang, was die Beherrschung der purpurnen Magie anging, jener Wissenssphäre, die von Rosaroten Symbolen repräsentiert wird.
Vermutlich hätte sich Howard Fair tatsächlich vom grünen Zyklus abgewandt, wären da nicht drei besondere Faktoren gewesen, die dazu führten, daß er eine andere Entscheidung traf.
Zunächst einmal ging es um seine Statur. Er war nicht einmal annähernd von durchschnittlicher Größe, hatte ein dunkles, fast finsteres Gesicht, dünnes schwarzes Haar, eine schiefe Knollennase und einen zwar sehr schmalen, dafür jedoch dicklippigen Mund. Fair legte keinen sonderlich großen Wert auf Äußerlichkeiten, doch er wußte, daß es bei ihm in dieser Hinsicht ausreichend Möglichkeiten zur Verbesserung gab. Vor seinem inneren Auge sah er das personifizierte Ideal eines Howard Fair: ein Mann, der mindestens zwanzig Zentimeter größer war, mit gerader langer Nase und einer Haut, die aussah wie Creme und in ihrer Farbtönung nicht etwa zwei Wochen altem Klärschlamm ähnelte. Eine eindrucksvolle Gestalt – und doch noch immer als er selbst zu erkennen. Er begehrte die Liebe von Frauen, aber er wünschte sich, sie zu bekommen, ohne zuvor Gebrauch von seinen thaumaturgischen Fähigkeiten zu machen. Schon des öfteren hatte er wunderschöne, bereitwillige und sich nach ihm verzehrende junge Mädchen in sein Bett gelockt. Doch nicht etwa Howard Fair war es, der sie verführte, sondern vielmehr die purpurne Magie. Und deshalb bereiteten ihm jene Erfolge nur geringe Befriedigung.
Das war der erste Faktor, der Howard Fair dazu verleitete, sich erneut dem grünen Zyklus zuzuwenden. Der zweite bestand in seinem Wunsch nach einem verlängerten, wenn möglich sogar ewigen Leben. Und beim dritten Aspekt handelte es sich schlicht und einfach um Neugier und Wissensdurst.
Gerald McIntyre war entweder tot oder einfach nur verschwunden – aber ganz gleich, welches Schicksal ihn auch ereilt haben mochte: Fair reagierte mit einer gewissen Besorgnis darauf. Wenn es seinem Onkel tatsächlich gelungen war, ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen: Warum hatte es ihn dann einfach so erwischt? Der ›unermeßliche Lohn‹ – handelte es sich dabei um etwas so Kostbares und Einzigartiges und Prächtiges, daß Gerald McIntyre unter der schweren Bürde des Besitzes eines derartigen Schatzes zusammengebrochen war? (Wenn diese Vermutung zutraf, so überlegte Fair, konnte man wohl kaum von einer Belohnung sprechen.)
Howard Fair schaffte es nicht, der Versuchung zu widerstehen, und nach und nach widmete er sich wieder dem Studium der grünen Magie. Er verzichtete darauf, erneut den Geist zu beschwören, dessen nachsichtige Arroganz Verärgerung in ihm geweckt hatte. Statt dessen nutzte er eine indirekte Methode, um sein Wissen zu mehren, und er brachte dabei die fortschrittlichsten Konzepte der technischen und esoterischen Wissenschaften zum Einsatz.
Er besorgte sich einen tragbaren Fernsehsender, den er zusammen mit dem Empfänger in seinem Wagen verstaute. An einem Montagabend Anfang Mai fuhr er zu einem alten Friedhof in einem hügeligen Waldgebiet, und dort, im blassen Licht des Mondes, vergrub er die Kamera, so tief, daß nur noch die Linse aus dem Erdreich ragte.
Anschließend nahm er einen dicken Erlenzweig zur Hand und kratzte damit ein geradezu monströses Zeichen in den Boden. Die Linse der Fernsehkamera stellte dabei ein Auge dar, der Hals einer Bierflasche daneben das zweite.
Stunden später, als sich dünne Wolken vor den Mond schoben und sein Licht schluckten, schrieb Fair ein ganz bestimmtes Wort auf die ›Stirn‹ des Gesichts, dessen Konturen er gezeichnet hatte, und dann sprach er die Beschwörungsformel aus.
Es grollte und ächzte im Boden, und die finstere Gestalt eines Golems verdeckte das Funkeln der Sterne.
Die glasigen Augen starrten auf Fair herab, der in einem Pentagramm stand und somit geschützt war.
»Sprich!« rief Howard. »Enteresthes, Akmai Adonai Bidemgir! Elohim, pa rahulli! Enteresthes, HVOI! Sprich!«
»Gib mich der Erde zurück. Laß meinen Leib wieder eingehen in den unbelebten Ton, aus dem du mich schufst.«
»Zuerst mußt du mir einen Dienst erweisen.«
Der Golem wankte los und machte Anstalten, Fair zu zermalmen. Doch die Kraft der schützenden Magie hielt ihn zurück.
»Ich werde dir dienen, wenn du das von mir verlangst.«
Kühn trat Fair aus dem Pentagramm heraus, und in V-Form legte er ein rund vierzig Meter langes grünes Band auf dem Weg aus. »Begib dich in die Sphäre der grünen Magie!« wies er das Ungeheuer an. »Das Band reicht vierzig Meilen weit. Geh bis ans Ende, mach kehrt und komm wieder hierher. Anschließend kannst du zurücksinken in den Boden, aus dem du dich erhoben hast.«
Der Golem drehte sich um, trat in das grüne V und schüttelte dicke Lehmbrocken von seiner massigen Gestalt. Der Boden erzitterte unter seinen wuchtigen Schritten.
Fair sah zu, wie die riesenhafte Gestalt rasch kleiner wurde, als sie sich von ihm entfernte, ohne dabei den Eckpunkt des magischen V zu erreichen. Er nahm in seinem Wagen Platz, justierte den Fernsehempfänger auf die Sendefrequenz der Kamera, die das eine Auge des Golems darstellte, und beobachtete fasziniert die Bilder von der grünen Sphäre.
Zwei Elementargeister der grünen Sphäre begegneten sich auf einer Ebene aus gesponnenem Silber. Sie hießen Jaadian und Misthemar, und sie sprachen über das tönerne Ungeheuer, das vierzig Meilen weit durch jene Region marschiert war, die man Cil nannte. Man hatte beobachtet, wie es sich schließlich umwandte und den gleichen Weg zurückkehrte, wie es immer rascher ausschritt, bis es lief und auf den zarten Rautenmustern eine lange Spur aus Erdklumpen zurückließ.
»Geschehnisse, Ereignisse, Zwischenfälle«, brummte Misthemar sorgenvoll. »Sie stauen den Fluß der Zeit, bis er über die Ufer tritt. Doch wenn es nicht dazu kommt, ist er nur ein langes und völlig gleichförmiges Band, bar jeder Bewegung…« Er zögerte, und während er grübelte, strichen silberne Wolken über und unter ihm dahin.
»Du weißt sicher, daß ich mit Howard Fair gesprochen habe«, sagte Jaadian. »Er ist so sehr von der Vorstellung besessen, das Elend seiner Welt zu verlassen, daß er nachgerade tollkühn handelt.«
»Der Mensch namens Gerald McIntyre war sein Onkel«, bemerkte Misthemar. »McIntyre flehte, und wir erfüllten seinen Wunsch. Vielleicht sollten wir auch Howard Fair gegenüber nachgeben.«
Voller Unbehagen öffnete Jaadian die eine Hand, und ein Funkenregen aus smaragdgrünem Feuer stob davon. »Die Ereignisse üben von allen Seiten Druck auf uns aus. Ich sehe mich außerstande, in dieser Beziehung etwas zu unternehmen.«
»Auch mir würde es nicht gefallen, eine Tragödie herbeizuführen.«
Eine Bedeutungseinheit schwebte zu ihnen empor. »Eine Störung inmitten der Spiraltürme! Eine Raupe aus Glas und Metall kam herangekrochen. Sie stieß elektrische Augen in die Portinone und brach das Ei der Unschuld auf. Howard Fair ist die Ursache.«
Jaadian und Misthemar berieten sich mit grimmigem Unwillen. »Nun gut, wir machen uns beide auf den Weg. Eine solche Pflicht erfordert nicht nur eine Seele, sondern dergleichen zwei.«
Sie begaben sich auf die Erde und fanden Howard Fair in einer Cocktailbar. Er saß dort in einer Nische und sah zu den beiden Fremden auf. Einer von ihnen fragte: »Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten?«
Fair musterte die Männer. Beide waren in unauffällig wirkende Anzüge gekleidet und trugen Kaschmirmäntel über den Armen. Howard bemerkte, daß ihre Fingernägel grün glänzten.
Höflich stand Fair auf. »Bitte, setzen Sie sich!«
Die grünen Geister hängten ihre Mäntel auf und nahmen ebenfalls in der Nische Platz. Fair sah sie beide nacheinander an und wandte sich dann an Jaadian. »Hatte ich nicht das Vergnügen, Sie vor einigen Wochen kennenzulernen?«
Jaadian nickte. »Sie haben meinen Rat nicht beherzigt.«
Fair zuckte mit den Schultern. »Sie forderten mich dazu auf, unwissend zu bleiben, mich mit Dummheit und Inkompetenz abzufinden.«
»Und was ist daran so schlimm?« fragte Jaadian freundlich. »Sie sind ein Primitiver in einer primitiven Welt. Und trotzdem: In dieser Sphäre gibt es nur sehr wenige Leute, die sich mit Ihren Leistungen messen könnten.«
Dem pflichtete Fair bei, und er lächelte schief. »Doch Wissen bewirkt das Verlangen nach weiteren Erkenntnissen. Und kann das Streben nach Einsichten schaden?«
Misthemar, der lebhaftere der beiden Geister, erwiderte aufgebracht: »Ob das Bestreben, zu Einsichten zu gelangen, schaden kann? Denken Sie nur an Ihr tönernes Ungeheuer! Es verdreckte einen vierzig Meilen langen Bereich zartester Kunst, all das, was in zehn Millionen Jahren geschaffen wurde. Und dann Ihre Raupe! Sie zerstörte unsere Säulen aus verzierter Milch, unsere Traumtürme, und sie beschädigte die Nervenstränge, die für unsere Bedeutungseinheiten die Funktion von Schienen erfüllen.«
»Das tut mir schrecklich leid«, antwortete Fair. »So etwas lag nicht in meiner Absicht.«
Die Geister nickten. »Doch offenbar ist Ihre Entschuldigung keine Garantie dafür, daß sich solche Geschehnisse nicht wiederholen.«
Fair griff nach seinem Glas und hob es. Ein Kellner trat an den Tisch heran und wandte sich an die beiden Geister. »Möchten Sie ebenfalls etwas?«
Jaadian bestellte mit kohlensaurem Kalk angesetztes Wasser, und Misthemar folgte seinem Beispiel. Fair hingegen entschied sich für einen Whisky mit Soda.
»Was erhoffen Sie sich durch jene Aktivität?« erkundigte sich Misthemar. »Zerstörerische Streifzüge nützen Ihnen nichts.«
Das bestätigte Fair. »Tatsächlich konnte ich dadurch nur wenig in Erfahrung bringen. Doch ich habe wundervolle Dinge gesehen. Und ich bin mehr denn je dazu entschlossen, weitere Erkenntnisse zu gewinnen.«
Mit finsteren Mienen starrten die beiden grünen Geister auf die Blasen in ihren Gläsern. Nach einer Weile seufzte Jaadian tief. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Ihnen Mühe und uns Scherereien zu ersparen. Sagen Sie uns einmal ganz offen, welche Vorteile Sie sich von der grünen Magie versprechen.«
Fair lächelte und lehnte sich in dem Sessel aus rotem Kunstleder zurück. »Ich erhoffe mir viele Dinge. Längeres Leben, die Möglichkeit, mich in der Zeit zu bewegen, assoziatives Gedächtnis, verbesserte Wahrnehmung, mit einem optischen Sinn, der sich auf das ganze Spektrum erstreckt. Ich wünsche mir physische Ausstrahlungskraft, körperlichen Magnetismus, ein jugendliches Erscheinungsbild, ein stabiles und athletisches Leistungsvermögen… Dann gibt es da noch einige andere Dinge, die bisher jedoch auf eine rein spekulative Natur beschränkt sind, zum Beispiel…«
Jaadian warf ein: »Wir sind bereit, Ihnen die eben erwähnten Eigenschaften und Charakteristiken zuzugestehen. Als Gegenleistung versprechen Sie uns, nicht noch einmal Unruhe in die grüne Sphäre zu tragen. Ihnen bleiben dadurch einige Jahrhunderte der Anstrengungen erspart, und Sie verschonen uns dadurch mit Ihren Belästigungen, die schließlich auf die endgültige Tragödie hinausliefen.«
»Tragödie?« wiederholte Fair verwundert. »Was für eine Tragödie?«
Als Jaadian antwortete, vibrierte seine Stimme dumpf. »Sie sind ein Mensch von der Erde. Ihre Ziele entsprechen nicht den unsrigen. Und mit Hilfe der grünen Magie begreifen Sie, was es mit uns auf sich hat.«
Nachdenklich nippte Fair an seinem Whisky. »Ich verstehe nicht ganz, warum das ein Nachteil sein soll. Ich bin bereit, mich selbst dem mühevollsten Lernprozeß zu unterziehen. Das Wissen um die grüne Magie verwandelt mich doch gewiß nicht in eine andere Person?«
»Nein. Gerade darin besteht ja die Tragödie!«
Misthemar verzog wütend das Gesicht. »Sie können von Glück sagen, daß es uns verboten ist, niederen Wesen ein Leid zuzufügen. Es würden nämlich alle unsere Probleme aus der Welt geschafft, wenn wir Sie einfach in Luft verwandelten.«
Fair lachte. »Ich muß mich erneut dafür entschuldigen, Ihnen solchen Ärger zu bereiten. Aber Ihnen ist doch sicher klar, welche Bedeutung dies alles für mich hat.«
»Dann nehmen Sie also unser Angebot an?« fragte Jaadian hoffnungsvoll.
Fair schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich es denn aushalten, eine Ewigkeit lang zu leben, in immerwährender Jugend, dazu imstande, viele Jahrhunderte lang zu lernen – und gleichzeitig zu wissen, daß meine Erkenntniswelt, deren Grenzhorizonte ich schon jetzt erkenne, für immer beschränkt bleibt? Eine solche Existenz wäre nicht nur langweilig, sondern auch voller Kummer und Elend.«
»Das könnte durchaus stimmen«, pflichtete Jaadian ihm bei. »Und doch wäre ein derartiges Leben nicht annähernd so langweilig und voller Kummer und Elend wie das, das Sie mit dem Wissen um die grüne Magie führen müßten.«
Fair holte tief Luft. »Ich bin entschlossen, die Geheimnisse Ihrer Sphäre zu lüften. Nur ein kompletter Idiot würde eine solche Gelegenheit nicht wahrnehmen.«
Jaadian seufzte. »An Ihrer Stelle hätte ich vermutlich ebenfalls so geantwortet.« Die beiden Geister standen auf. »Kommen Sie – wir werden Sie unterrichten.«
»Und behaupten Sie später nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt«, fügte Misthemar hinzu.
Die Zeit verstrich. Das Abendrot verblaßte, und die Dunkelheit der Nacht rückte heran. Ein Mann stieg die Treppe hinauf und betrat die Wohnung Howard Fairs. Er war groß und recht kräftig gebaut, und die scharfgeschnittenen und humorvoll wirkenden Züge des intelligenten Gesichts unterstrichen sein attraktives Erscheinungsbild. Der linke Daumennagel glänzte grün.
Bei der Zeit handelt es sich um eine Funktion von Lebensprozessen, und auf dieser Grundlage basieren die entsprechenden Vorstellungen und Konzepte der Menschen auf der Erde. Legte man einen derartigen Maßstab zugrunde, so waren für Howard Fair zwei Stunden vergangen, nachdem er die Bar verlassen und die beiden grünen Geister begleitet hatte.
Doch für Fair gab es in diesem Zusammenhang andere Kriterien. Für ihn erstreckten sich jene zwei ›vitalem Stunden‹ über einen Zeitraum von insgesamt siebenhundert Jahren, die er in der grünen Sphäre verbracht hatte und während denen die Lernkapazität seines Hirns vollauf ausgelastet gewesen war.
Zwei Jahre verbrachte er damit, seine Sinne an die neuen Umweltbedingungen anzupassen. Allmählich gewöhnte er sich daran, sich in den sechs allgemeinen dreidimensionalen Richtungen zu bewegen, und nach und nach verstand er es auch, Gebrauch von den vier-dimensionalen Abkürzungen zu machen. Die dunklen Klappen vor seinen Augen wurden erst nach und nach und zu Beginn nur für kurze Zeit entfernt, damit ihm die verwirrende und im wahrsten Sinne des Wortes übermenschliche Komplexität der Landschaft nicht vollständig die Orientierung raubte.
Ein weiteres Jahr dauerte es, den Umgang mit einer Art Code-Sprache zu lernen. Dabei handelte es sich um eineÜbergangsstufe zwischen den auf der Erde gebräuchlichen Vokalisationen und den Bedeutungsmustern der grünen Sphäre, in der sich hundert Symbolflocken (jede einzelne davon ein hin und her huschender Fleck aus fein abgestuftem Glanz) zu einem Schwarm mit einem ganz bestimmten Informationsgehalt zusammenfinden mochten. Während dieser Zeit veränderten sich sowohl die Augen Howard Fairs als auch seine Hirnstruktur. Nur auf diese Weise war er dazu imstande, die vielen neuen Farben zu erkennen, ohne die die Muster der Bedeutungsflocken sinnlos blieben.
Und das alles war erst der Beginn. Vierzig Jahre lang befaßte sich Fair mit jenen Flocken, von denen es fast eine Million gab. Im Verlauf weiterer vierzig Jahre erfuhr er den Umgang mit den einfachen Mitteilungsstrukturen und ihren Veränderungen, und noch einmal vier Jahrzehnte dauerte es, bis er die Parallelen und Winkelanordnungen und Modifikationen in bezug auf die Leuchtkrafttransformationen zu interpretieren verstand. Anschließend machte man ihn auch mit den ersten komplizierteren Mustern vertraut, die ganze Bedeutungsketten übermittelten.
Nach dieser Phase konnte er seine Studien fortsetzen, ohne auf die Code-Sprache zurückgreifen zu müssen, und dadurch machte er schnellere Fortschritte. Zwanzig Jahre später fiel es ihm nicht mehr schwer, komplexe Botschaftsmatrizen zu verstehen, und das Lernprogramm erweiterte sich. Er schwebte über den Bereich mit den Rautenmustern, auf denen sich noch immer die Fußspuren des Golems zeigten. Er schwitzte vor Verlegenheit, als er endlich im ganzen Ausmaß begriff, was er damals mit seiner sturen Entschlossenheit angerichtet hatte.
Und so vergingen die Jahre. Howard Fair lernte so viel von der grünen Magie, wie sein Hirn aufzunehmen vermochte.
Er erforschte einen Großteil der grünen Sphäre, und dabei fand er derart viele prächtige Dinge, daß er schon fürchtete, ein solches Ausmaß an Entzücken könne ihn überschnappen lassen. Er schmeckte und hörte, er fühlte und spürte, und alle seine Sinne waren mindestens hundertmal empfindlicher als vorher. Für die Ernährung gab es tausend verschiedene Möglichkeiten. Man brauchte einfach nur rosafarbene Eier zur Hand zu nehmen, die dann zerplatzten und ein warmes und süß duftendes Gas freisetzten, das den ganzen Körper umhüllte. Oder man lief durch den Regen aus herb riechenden Metallkristallen. Oder man stillte Hunger und Durst, indem man sich auf das richtige Symbol konzentrierte.
Das Heimweh nach der Erde kam und ging. Manchmal empfand Fair die Sehnsucht nach seiner alten Heimat als geradezu unerträglich, und bei solchen Gelegenheiten spielte er mit dem Gedanken, alles aufzugeben, was er in Erfahrung gebracht hatte, auch seine Hoffnungen auf eine glorreiche Zukunft. Dann wieder war er ganz hingerissen von der Herrlichkeit der grünen Sphäre, was dazu führte, daß ihm die Vorstellung einer vorzeitigen Rückkehr zur Erde wie eine Todesdrohung erschien.
In einzelnen Abschnitten, die so langsam und subtil aufeinander folgten, daß er die Unterschiede zwischen ihnen gar nicht bemerkte, lernte er die grüne Magie.
Doch die neuen Fähigkeiten erweckten keinen Stolz in ihm: Zwischen seiner linkischen Ungeschicktheit und der poetischen Eleganz der Geister verblieb ein gewaltiger Unterschied – und Fair war sich seiner wesensmäßigen Unterlegenheit nun weitaus bewußter als in seinem vorherigen Zustand. Schlimmer noch: Selbst die größten Anstrengungen, seine Techniken zu verbessern, erbrachten nicht den ersehnten Erfolg, und wenn er manchmal erlebte, wie einer der Geister aus purer Freude eine improvisierte Vorstellung seiner Kunst gab und er sie mit seinen eigenen Bemühungen verglich, so fühlte er sich beschämt und kam sich wie ein Versager vor.
Je länger er in der grünen Sphäre verblieb, desto stärker wurde der Eindruck seiner Unbeholfenheit, und nach einer Weile sehnte er sich nach dem einfacheren Ambiente auf der Erde. Dort konnte er sicher sein, daß seine Bemühungen nicht sofort als gewöhnlich und schlicht auffielen. Gelegentlich sah er den Geistern dabei zu, wie sie (in den für sie üblichen ätherischen Manifestationen) inmitten der Perlenblätter tanzten oder als glänzende und anmutige Schemen durch den Wald aus rosafarbenen Spiralen huschten. Doch er konnte den enormen Unterschied zwischen ihrer Ausdruckskraft und seiner ungelenken Plumpheit nicht ertragen und wandte sich rasch ab. Mit jeder verstreichenden Stunde verringerte sich sein Selbstrespekt, und anstatt Stolz auf seine unleugbaren Lernerfolge zu empfinden, sehnte er sich kummervoll nach dem, was er nicht war und auch niemals werden konnte. Während der ersten hundert Jahre studierte er mit der Begeisterung des Unwissenden, und im Verlauf des zweiten Jahrhunderts klammerte er sich an seinen Hoffnungen fest. Doch in den letzten Jahren machte er nur noch deshalb weiter, weil er sich ganz auf seine sture Verbohrtheit konzentrierte – obgleich ihm klar war, daß alles umsonst und vergebens bleiben mußte.
In einer besonders depressiven Phase gab er schließlich auf. Er gesellte sich zu Jaadian, der gerade damit beschäftigt war, glitzernde Fragmente unterschiedlicher magischer Energien zu einem multidimensionalen Faden-und Spantennetz zu verweben. Mit ernster Höflichkeit blickte Jaadian Fair entgegen, und Howard rief einige Bedeutungsflocken herbei und teilte ihm seinen Entschluß mit.
Auf die gleiche Weise antwortete Jaadian: »Ich kann verstehen, was Sie bewegt, und ich möchte Ihnen mein Mitgefühl aussprechen. Es scheint mir tatsächlich besser zu sein, daß Sie jetzt in Ihre alte Heimat zurückkehren.«
Er legte das Gewebe beiseite und begleitete Fair durch die Transferwirbel. Unterwegs kamen sie an Misthemar vorbei. Zwar tauschten sie keine Bedeutungsmuster aus, aber Howard Fair glaubte einen Hauch von schadenfroher Belustigung zu verspüren.
Howard Fair saß in seiner Wohnung. Mit Hilfe der durch den Aufenthalt in der grünen Sphäre sensibilisierten und erweiterten Sinne machte er sich ein Bild von seiner Umgebung. Nach der auf der Erde gebräuchlichen Zeitrechnung waren nur zwei Stunden verstrichen, und vor jenen hundertzwanzig Minuten, so erinnerte sich Fair, hatte er die Dinge in seinem Heim als bequem und anregend empfunden. Das traf jetzt nicht mehr zu. Die Bücher: Aberglaube, Unfug, pseudowissenschaftliches Geschreibsel. Seine eigenen Tagebücher und Arbeitsunterlagen: pathetische Worte, die doch nichts weiter als Torheit zum Ausdruck brachten. Gravitation zerrte an ihm und schien seine Unbeholfenheit noch weiter zu verstärken. Die armselige Beschaffenheit des Hauses, die er zuvor gar nicht bemerkt hatte, machte ihn trübsinnig. Ganz gleich, wohin er auch sah: Überall fiel sein Blick auf schlampige Nachlässigkeit, auf Unordnung und Schmutz. Bei dem Gedanken an die Nahrungsmittel, mit denen er sich jetzt begnügen mußte, wurde ihm übel.
Er trat auf den kleinen Balkon hinaus, von dem aus er die Straße übersehen konnte. Die Luft war voller organischer Gerüche. Und durch die Fenster der anderen Häuser konnte er seine Mitmenschen beobachten, die in Dummheit und Elend lebten.
Fair lächelte niedergeschlagen. Er hatte versucht, sich auf diese Reaktionen vorzubereiten, aber ihre Intensität überraschte ihn nun. Es mußte ihm gelingen, sich wieder an die alte Umgebung zu gewöhnen. Und immerhin war er dazu in der Lage, auf andere Art und Weise zu Freude und Befriedigung zu gelangen. Er konnte es sich jetzt leisten, die erstrebenswertesten Dinge der Welt zu genießen.
Howard Fair gab sich alle Mühe, Gefallen an den verschiedensten Vergnügungsmöglichkeiten zu finden. Er zwang sich dazu, große Mengen von erlesenem Wein zu trinken und die besten Cognac-Sorten auszuprobieren – obgleich sie seinen Gaumen beleidigten. Als der Hunger stärker wurde als sein Abscheu, brachte er das Verzehren von Objekten über sich, die er als erhitztes tierisches Körpergewebe und hypertrophische Geschlechtsorgane von Pflanzen erachtete. Er experimentierte mit erotischen Empfindungen, mußte jedoch die Feststellung machen, daß sich die besonders schönen Frauen nicht mehr von den Mauerblümchen unterschieden. Außerdem weckten schmutzige Kontakte dieser Art – er dachte dabei insbesondere an den Austausch von Viren, Bakterien und Pilzen – Übelkeit in ihm. Er kaufte ganze Bibliotheken hochwissenschaftlicher Werke, und voller Verachtung blätterte er in den Bänden. Er versuchte, sich mit seinen alten magischen Künsten zu amüsieren, doch sie erschienen ihm lächerlich.
Einen Monat lang trachtete er danach, sich auf diese Weise abzulenken. Dann verließ er fluchtartig die Stadt und baute sich eine Kristallkuppel auf einer Felsspitze in den Anden. Zu Ernährungszwecken entwickelte er eine zähflüssige Masse, die einerseits zwar nicht annähernd so gut schmeckte wie die entsprechenden Substanzen der grünen Sphären, andererseits jedoch keinerlei organische Verunreinigungen aufwies.
Nach einer Phase des Notbehelfs und der Improvisationen gelang es ihm, sein Leben mit einem Minimum von Beschwerlichkeiten zu strukturieren. Von seinem kristallenen Refugium aus bot sich ihm eine Aussicht von strenger Pracht dar. Nicht einmal die Kondore kamen so hoch herauf, um ihn zu stören. Er nahm sich ausgiebig Zeit, um über die Folge von Ereignissen nachzudenken, die mit der Entdeckung der Arbeitsunterlagen Gerald McIntyres begonnen hatte. Er runzelte die Stirn. Gerald McIntyre? Fair sprang auf, und plötzlich reichte sein Blick weit über die nackten Felsen der Anden hinweg.
Er fand seinen Onkel in einer kleinen Tankstelle mitten in der Prärie Süddakotas. McIntyre saß auf einem alten hölzernen Stuhl, der an die abblätternde gelbe Tünche einer Wand gelehnt war, und ein Strohhut schützte ihn vor dem grellen Schein der heißen Sonne.
Es handelte sich um einen beeindruckend attraktiven Mann mit dichten blonden Haaren und braunen Augen, die ebenso kalt funkelten wie Eiszapfen. Der Daumennagel seiner linken Hand glänzte grün.
Fair begrüßte ihn mit einigen knappen Worten, und anschließend musterten sich die beiden Männer mit beiläufigem Interesse.
»Wie ich sehe, hast du dich eingewöhnt«, sagte Howard Fair.
McIntyre zuckte mit den Schultern. »So gut es ging. Ich versuche, einen gewissen Ausgleich zu wahren zwischen der Einsamkeit und dem Druck, der von der Masse der Menschheit ausgeht.« Er blickte zum strahlend blauen Himmel empor und beobachtete einige Krähen, die dort Kreise zogen und krächzten. »Viele Jahre verbrachte ich in völliger Abgeschiedenheit, und irgendwann ging mir das Geräusch meines eigenen Atmens auf die Nerven.«
Ein funkelnder Wagen fuhr über den nahen Highway und näherte sich ihnen, und er sah mindestens ebenso exotisch aus wie eine Kreuzung zwischen Goldfisch und Zitteraal. Aufgrund ihrer veränderten Wahrnehmung konnten Fair und McIntyre erkennen, daß der Fahrer ein rotgesichtiger und jähzorniger Mann war. Die neben ihm sitzende Frau schien launisch und gereizt zu sein, und sie trug teure Kleidung.
»Es gibt noch einige andere Vorteile, hier zu wohnen«, fügte McIntyre hinzu. »Zum Bespiel kann ich das Leben der vorbeikommenden Leute mit einigen abenteuerlich anmutenden Erlebnissen bereichern.« Er winkte kurz. Zwei Dutzend Krähen sausten heran und flogen neben dem Wagen her. Nach einer Weile hockten sie sich auf die Stoßstangen, stolzierten auf der Motorhaube herum und beschmutzten die Windschutzscheibe.
Die Reifen quietschten, und kaum hatte der Wagen angehalten, sprang der Fahrer heraus und verscheuchte die Vögel. Er warf ihnen einen Stein nach – der keine der Krähen traf –, ruderte aufgebracht mit den Armen, nahm wieder hinter dem Steuer Platz und fuhr weiter.
»Nichts als Belanglosigkeiten«, seufzte McIntyre. »Die Wahrheit ist, ich langweile mich.« Er spitzte die Lippen und blies drei Rauchwolken von sich: Die erste war rot, die zweite gelb, und die dritte leuchtete in einem kobaltblauen Ton. »Wie du sehen kannst, bin ich bereits ziemlich albern und närrisch geworden.«
Fair beobachtete seinen Großonkel und empfand dabei einen Hauch von Unbehagen. McIntyre lachte. »Na gut, Schluß mit diesen Possen! Aber ich bin sicher, daß du meinen Kummer bald teilst.«
»Das ist bereits der Fall«, sagte Fair. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mich von der ganzen Magie abwenden und wieder so unschuldig und naiv werden wie damals.«
»Ich habe ebenfalls mit diesem Gedanken gespielt«, gestand McIntyre nachdenklich ein. »Und auch schon die nötigen Vorbereitungen getroffen. Eigentlich ist alles ganz einfach.« Er führte Fair zu einem kleinen Nebengebäude hinter der Tankstelle. Zwar stand die Tür offen, doch im Innern konnte Howard nichts anderes erkennen als nur lichtlose Finsternis.
Vorsichtig blieb McIntyre einige Meter vor der dunklen Pforte stehen, und ein sonderbares Lächeln umspielte seine Lippen. »Du brauchst nur durch die Tür zu gehen. In jenem Zimmer dort büßt du nicht nur alle deine magischen Kenntnisse ein, sondern verlierst auch deine Erinnerungen an die grüne Sphäre. Dann bist du nicht klüger als ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch. Du befreist dich von deinem Wissen, und damit auch von Langeweile, Melancholie und Unzufriedenheit.«
Fair beobachtete den dunklen Zugang. Ein einzelner Schritt genügte, um seinem Leid ein Ende zu machen.
Er warf McIntyre einen kurzen Blick zu, und die beiden Männer musterten sich, während ihre Mienen eine Mischung aus Spott und Belustigung zum Ausdruck brachten. Sie kehrten auf die Veranda vor der Tankstelle zurück.
»Manchmal stehe ich einfach nur an der Tür und starre in die Finsternis«, sagte McIntyre. »Und dann denke ich daran, wie sehr ich inzwischen die Langeweile schätze und wieviel mir an einem derartigen Kummer gelegen ist.«
Fair machte sich zum Aufbruch bereit. »Ich danke dir für diese neue Weisheit, die mich selbst weitere hundert Jahre in der grünen Sphäre nicht hätten lehren können. Ich glaube, ich kehre jetzt auf meine Felsspitze in den Anden zurück – zumindest für eine Weile.«
McIntyre lehnte seinen Stuhl wieder an die Wand der Tankstelle. »Und ich warte auf die nächsten Wagen – wenigstens eine Zeitlang.«
»Auf Wiedersehen, Onkel Gerald.«
»Auf Wiedersehen.«
Originaltitel: »Green Magic« Copyright © 1963 by Mercury Press, Inc. (in »The Magazine of Fantasy and Science Fiction«, Juni 1963) Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst